29.07.2021, 18:11
(28.07.2021, 07:40)Atanvarno schrieb: Wohl doch ein KopfproblemMeine größte sportliche Niederlage (auch wegen ihrer Spätfolgen) war ja das
Angst um mentale Gesundheit - US-Turn-Star Biles steigt im Finale aus
Auch im Mehrkampf-Finale wird sie nicht antreten
Simone Biles withdraws from women's all-around final
Ausscheiden in der Qualifikation bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko.
Heute, wo ich aus der Ferne miterlebe, wie die US-Turnerin Simone Biles die
Nerven verliert und sich verabschiedet, bevor sie das Desaster ereilt, zu versagen,
muss ich an meine bittere Erfahrung zurückdenken. Ich hätte nur die Höhe von
2m12 überspringen müssen, um im Endkampf dabeizusein. Aber anders als bei
den Deutschen Meisterschaften, wo ich die Olympianominierung mit eben dieser
Höhe errang oder ersprang, versagten mir die Beine, die mich zuvor noch sicher
über 2m09 getragen hatten, und ich bewegte mich so wie ich mich fühlte: Wie ein
nasser Kartoffelsack. Im Gegensatz zu Biles war es mir nicht erlaubt, diese
Schwäche zu zeigen und zu ihr zu stehen. Ich musste da durch und mich als
Versager verabschieden. Dabei war ich ja tatsächlich von Grund auf depressiv
und hatte es nur nicht geschafft, meine Euphorietaste zu drücken.
Bei meinen zuvor erbrachten Bestleistungen (2m14, 2m12, 2m125) war das
Ambiente aber auch ganz ein anderes. In Stuttgart 14.000 Zuschauer, in Berlin ein
volles Olympia-Stadion und in Flagstaff (Arizona/USA), unserem vorolympischen
Trainingslager, die neu gewonnenen Freunde unter den Studenten und Studentinnen (!)
der dortigen Universität applaudierend und anfeuernd direkt an der Anlage – das
waren andere Bedingungen als im gähnend leeren Olympiastadion von Mexiko City
mit 54 internationalen Gegnern, die auch alle ins Finale wollten und darauf nicht mir
zuliebe verzichtet hätten.
Anders als Kollege Gunther Spielvogel, der mich vor dem letzten Versuch noch im
Vorbeigehen ermunterte. Aber da war es schon zu spät für jegliche Betreuung. Eine
solche gab es nämlich für mich nicht. Die Spiele neigten sich schon dem Ende zu.
Ich hatte miterlebt, wie zahlreiche Kameraden bereits in ihren Vorkämpfen und
Vorläufen gescheitert waren, wie sich das Olympische Athletendorf langsam leerte,
wodurch die Stimmung auf Abschied stand, auf Ermüdung, Enttäuschung, während
die erfolgreichen Sportler von den Medien vereinnahmt verschwanden. Die Spiele
waren praktisch vorbei, die Trainingsanlage schon abgebaut (welch ein Fauxpas der
Organisatoren!), die Mensa nur noch spärlich genutzt, „die Bürgersteige hochgeklappt“.
Die Trainer und Funktionäre verschwunden – aber für mich war ja eh nie einer
zuständig, der Bundestrainer Werner Bähr nicht im Aufgebot.
Einsam und isoliert hatte ich Ablenkung in der Stadt gesucht und mich verlaufen,
wo doch Spaziergänge Gift für einen Springer sind. Kurz: Das Leben stand mir nach
totaler Lustlosigkeit. Auf der Kippe zwischen Begeisterung und Enttäuschung war
das Barometer auf Tiefdruck gesunken. Es gab sogar noch mehr Gründe, melancho-
lisch zu sein, aber die waren noch persönlicherer Natur, hatten mit der daheimgeblie-
benen Partnerin zu tun. In Berlin erwarteten mich nichts als Unannehmlichkeiten.
Wie sollte ich da in Höchstform kommen?! Es war einfach nur tragisch und ich musst
so tun alsob es mir nichts ausmachte. Niemand sollte sehen wie ich litt. Heute hätte
ich vor den Kameras gezetert und geschluchzt. Aber das passte damals nicht in mein
Selbstbild.
All das gehört nun offenbar zu meinem Olympischen Schicksal, denn es hätte mir
auch in München nichts genützt dabei zu sein, denn zwei Tage vor meinem Wettkampf
kam ja das unsägliche Attentat. Und danach wäre ich abermals gescheitert oder hätte
eben diesmal beizeiten das Weite gesucht. Wie konnten die Anderen da in Stimmung
bleiben?! Ich war und bin zu sensibel für dieses Leben, für diese Welt, für den Sport
und den Beruf und die Familie. Ein Astheniker durch und durch, dem es vergönnt
war, ein paar Sternstunden zu nutzen, um den Kopf aus dem Sumpf zu recken. Ein
Schwächling, der nicht zwei Tage hintereinander trainieren konnte ohne abzubauen
und Verletzungen anzulegen. Ein Freizeitsportler und Amateur, der es nicht ertragen
hat, seine Brötchen mit dem Sport verdienen zu müssen.
All diese Gedanken wälzen sich durch meine Hirnwindungen, während ich gebannt
vor dem modernen Fernsehschirm verfolge, was in Tokio 2020 abgeht. Großer Sport
trotz Corona und anderer ärgerlicher Restriktionen. Wie gut dass mir all das erspart
geblieben ist! Und dankbar bin ich dafür, so früh geboren zu sein, jene goldenen
Zeiten erleben gedurft zu haben.
Dem nach höherem Strebenden ist nichts zu hoch sondern alles zu nieder. (vonmia)