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Viel mehr Individualismus zulassen - Druckversion

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Viel mehr Individualismus zulassen - Gertrud - 29.10.2018

Allmählich reagiere ich unheimlich allergisch, wenn ich immer wieder dieses "Teamgesülze" auf leichtathletik.de lese. Mir kommt es unglaublich auf die individuelle Förderung der Athleten an - und das an vorderster Front. Selbst als ich Bundestrainerin war, habe ich das praktiziert. Ich habe mir z. B. bei einem Lehrgang für den Kugelstoßnachwuchs die einzelnen Kadermitglieder einzeln hintereinander in Mannheim vorgenommen und technisch korrigiert. Der Hausmeister war bass erstaunt, als ich ihn einen Tag vorher darum gebeten habe, am Folgetag um 6 Uhr morgens mit einer Athletin in die Halle zu dürfen. Sie war Frühaufsteherin, ich ebenfalls. Um 12 Uhr war ich mit den Kadermitgliedern durch. Jede hatte meine volle Aufmerksamkeit. Ich bin kein "Chamäleon" mit Augen überall. Selbst in Spitzenclubs sehe ich immer wieder das Procedere, mehr über die Gruppenstimmung und das Schulterklopfen als über die "Arbeit am Mann/ an der Frau" zu gehen.

Wenn die Arbeit zu Hause vor Ort sehr viel bringt, braucht der Athlet aus meiner Sicht nicht zu weniger qualifizierten Lehrgängen zu fahren. Das ist pure Zeitverschwendung, die dual genutzt werden kann. Bei Athleten mit einer qualitativ nachzurüstenden Betreuung sehe ich DLV-Lehrgänge als sinnvoll an.

Ein Armand Duplantis trainiert bei seinem Vater - Punkt!!! Solche Tatsachen sollte man zulassen und nicht immer wieder diese Teamformen "vorschreiben". Natürlich bringt bei einigen Inhalten auch Training in der Gruppe etwas. Das muss aber nicht zwingend ein Training unter der Leitung eines Bundestrainers sein, wenn der Heimtrainer besser ist. Ich halte freie Entscheidungen und Kreativität für enorme Leistungszubringer.

Dieses Vorschreiben geht bis in wissenschaftliche Teams hinein. Da darf ein hochqualifizierter Wissenschaftler nicht am Mann arbeiten, der vor Ort trainiert. Der Kaderathlet muss in ein 500km-weites Zentrum zur Kontrolle fahren. Da fasse ich mir an den Kopf ob dieser verschwendeten Gelder!!! Teamarbeit sieht für mich so aus, wenn der Wissenschaftler vor Ort die Tests abnimmt, mit seinen Kommentaren versieht und eine Kooperation der einzelnen Institute deutschlandweit besteht. Die Fakten sehen ganz anders aus. Die Zentralisierung bedeutet Gleichschaltung eines ganz bestimmten Systems.  Wink ‌Ich hätte so niemals mit Sabine Braun erfolgreich arbeiten können. Sie hat Individualismus pur praktiziert und das erfolgreich und vor allem gesund!!! Athletinnen und Athleten (und oft auch Trainer/innen) im gehobenen Segment sind nun mal Individualisten reinsten Wassers und lassen sich ungern gängeln.  

Gertrud


RE: Viel mehr Individualismus zulassen - Gertrud - 31.10.2018

Ich halte sehr viel davon, individuelle sportliche Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen. Jeder Mensch ist anders und benötigt zum Erfolg andere Zubringer, Werte und Umweltbedingungen. Das müssen wir nicht monieren, sondern forcieren, wenn es von sportlichem und individuellem Nutzen ist. Wir sollten in der Lage sein, das Umfeld ganz individuell auf potentielle Topathletinnen und -athleten zuzuschneiden.

Ich halte im Sinne der dualen Bedürfnisse vor allem ein ausgeklügeltes Zeitmanagement für dringend erforderlich. Das schließt Trainingsbedingungen rund um die Uhr ein (übertrieben formuliert). Da trainieren z.B. in Köln sehr gute Leute im Winter draußen oder müssen nach Leverkusen zu einer ganz bestimmten Zeit fahren, obwohl die Hochschulhalle nicht ausreichend frequentiert, aber zu teuer ist. Das geht aus meiner Sicht im Sinne von potentiellen Topleuten gar nicht. Um diese "Kleinarbeit" kümmert sich aber keiner. Meine AuA konnten rund um die Uhr unter sehr günstigen Bedingungen trainieren, weil ich sehr gut vernetzt war und auch selbst in meinem Hause Serviceleistungen bieten konnte, wenn alle anderen Sportstätten geschlossen oder besetzt waren.

Gertrud


RE: Viel mehr Individualismus zulassen - Gertrud - 01.11.2018

Die optimale Lösung wäre natürlich, wenn der DLV Menschen an den Positionen hätte, wo eine "Überwachung" derjenigen stattfindet, bei denen etwas individuell aus dem Ruder läuft - z.B. hinsichtlich enormer systembedingter, trainingstechnischer Verletzungen. Hier bedarf es eines sehr speziellen, aber sehr flott reagierenden, flexiblen "think tanks". - Ich denke aber auch an sehr individuelle verbesserte Trainingsbedingungen vor Ort, die es ganz präzise auszuloten gilt. Wir brauchen "Unruhegeister" in den allzu ruhigen Fortschritts-Gewässern. Ich bin immer auf der Spur nach ständigem Suchen bezüglich Verbesserungen.  

Bei mir melden sich z.B. immer mehr Trainer/innen, die eine Zusammenarbeit anstreben, weil sie meine speziellen Kenntnisse in Anspruch nehmen möchten. Ich gebe gelegentlich Denkanstöße hinsichtlich sehr individueller Einflussnahmen und Kenntnisse im prophylaktischen Bereich bezüglich spezieller Übungen und leite somit ein Umdenken in eingefahrenen "Gewässern" ein oder erst einmal ein Beschäftigen mit diesen Inhalten.

Ich verfolge sehr die Bemühungen der Evonik in Marl hinsichtlich spezieller Verbesseungen durch einen extra eingerichteten "think tank", der auch Geld für gelegentliche Irrgänge ausgeben darf. Man darf dort experimentieren. Man forscht jetzt (kam in einem TV-Quiz vor) an einem Weg der Energieversorgung durch Kohlendioxid plus Wasser als Ersatz für Öl.

Genaus finde ich das Bemühen einiger Firmen, das Wissen betagter ehemaliger Mitarbeiter zu integrieren, hervorragnd. Man beraubt sich nicht dieser Ressourcen kluger Köpfe. Sie geben ja nicht ihr Wissen mit der Verrentung ab.

Gertrud


RE: Viel mehr Individualismus zulassen - krebsan - 01.11.2018

So sehr ich viele Gedankengänge auch teile, so sehe ich doch auch viel Widersprüchliches. Wenn ich so viel Wert auf Autonomie, auf Selbstbestimmung, auf "niemand hat mir dreinzureden" lege, wie kann ich dann gleichzeitig so viele Forderungen an den Verband stellen?
Es scheint mir logisch, dass Unterstützungsmassnahmen, die über ein gewisses Mass hinaus gehen, mit Einflussnahme (man würde wohl Qualitätssicherung sagen) und Fremd-Mitbestimmung einhergehen.


RE: Viel mehr Individualismus zulassen - Gertrud - 01.11.2018

(01.11.2018, 11:02)krebsan schrieb: So sehr ich viele Gedankengänge auch teile, so sehe ich doch auch viel Widersprüchliches. Wenn ich so viel Wert auf Autonomie, auf Selbstbestimmung, auf "niemand hat mir dreinzureden" lege, wie kann ich dann gleichzeitig so viele Forderungen an den Verband stellen?
Es scheint mir logisch, dass Unterstützungsmassnahmen, die über ein gewisses Mass hinaus gehen, mit Einflussnahme (man würde wohl Qualitätssicherung sagen) und Fremd-Mitbestimmung einhergehen.

Das sieht auf den ersten Blick so aus; aber ich halte eine im Blick stehende leichte "Überwachung" vonnöten, wenn die dortigen Menschen dazu fähig sind. Eine Kontrolle oder besser Kooperation hilfsbedürftiger Trainer/innen halte ich seitens des Verbandes für selbstverständlich. 

Ich habe echte Hilfe nie abgelehnt. Nur habe ich mir nie Vorschriften bezüglich der Inhalte machen lassen, von denen ich hundertprozentig überzeugt war. Ich habe nie abgelehnt, die Biomechanik unter die Lupe zu nehmen. Nur war man nie daran interessiert, meine Vorschläge gegen die Bankdrück- und Kniebeugen-Dominanz anzunehmen. Ich habe vor 20-30 Jahren schon darauf hingewiesen. Mit einem solchen Mainstream-Training und Kontrollsystem hätte eine Sabine Braun nicht ein Jahr überlebt. Also habe ich auf eine derartige Kooperation verzichtet. 

Ich halte es für einen unglaublichen Fehler, dass vom DLV und auch in Westfalen in Kaiserau immer wieder Trainer aus dem Gewichtheberlager eingeladen werden. Unsere leichtathletischen Disziplinen haben mit den Gewichtheberübungen aber auch fast gar nichts zu tun. Nur wird flächendeckend immer wieder das Übungspotential aus dem Gewichtheberlager angeboten und auch nach dem Motto praktiziert: "Was von oben kommt, muss doch gut sein!"

Gertrud


RE: Viel mehr Individualismus zulassen - krebsan - 01.11.2018

(01.11.2018, 11:14)Gertrud schrieb:
(01.11.2018, 11:02)krebsan schrieb: So sehr ich viele Gedankengänge auch teile, so sehe ich doch auch viel Widersprüchliches. Wenn ich so viel Wert auf Autonomie, auf Selbstbestimmung, auf "niemand hat mir dreinzureden" lege, wie kann ich dann gleichzeitig so viele Forderungen an den Verband stellen?
Es scheint mir logisch, dass Unterstützungsmassnahmen, die über ein gewisses Mass hinaus gehen, mit Einflussnahme (man würde wohl Qualitätssicherung sagen) und Fremd-Mitbestimmung einhergehen.

Das sieht auf den ersten Blick so aus; aber ich halte eine im Blick stehende leichte "Überwachung" vonnöten, wenn die dortigen Menschen dazu fähig sind. Eine Kontrolle oder besser Kooperation hilfsbedürftiger Trainer/innen halte ich seitens des Verbandes für selbstverständlich. 

Ich habe echte Hilfe nie abgelehnt. Nur habe ich mir nie Vorschriften bezüglich der Inhalte machen lassen, von denen ich hundertprozentig überzeugt war. Ich habe nie abgelehnt, die Biomechanik unter die Lupe zu nehmen. Nur war man nie daran interessiert, meine Vorschläge gegen die Bankdrück- und Kniebeugen-Dominanz anzunehmen. Ich habe vor 20-30 Jahren schon darauf hingewiesen. Mit einem solchen Mainstream-Training und Kontrollsystem hätte eine Sabine Braun nicht ein Jahr überlebt. Also habe ich auf eine derartige Kooperation verzichtet. 

Gertrud

Das Problem ist vermutlich, dass der "Geldgeber" aber der Meinung ist/war, dass es ohne Bankdrücken und Kniebeugen nicht geht (oder bestimmte Umfänge, Intensitäten, was auch immer). Das heisst, die Förderung müsste auf Vertrauen basieren (was entsprechend auch etwas willkürlich ist), oder erst quasi als Erfolgsprämie im Nachhinein kommen, wenn der Weg sich als erfolgreich erwiesen hat. Dieses System, erst zu unterstützen, wenn der Erfolg erst da ist, wird nach wie vor zu häufig praktiziert.


RE: Viel mehr Individualismus zulassen - Gertrud - 01.11.2018

(01.11.2018, 11:19)krebsan schrieb: 
Das Problem ist vermutlich, dass der "Geldgeber" aber der Meinung ist/war, dass es ohne Bankdrücken und Kniebeugen nicht geht (oder bestimmte Umfänge, Intensitäten, was auch immer). Das heisst, die Förderung müsste auf Vertrauen basieren (was entsprechend auch etwas willkürlich ist), oder erst quasi als Erfolgsprämie im Nachhinein kommen, wenn der Weg sich als erfolgreich erwiesen hat. Dieses System, erst zu unterstützen, wenn der Erfolg erst da ist, wird nach wie vor zu häufig praktiziert.

Das Zauberwort ist Antizipation, sozusagen ein Vorhersehen, was sein könnte, also agieren und nicht permanent reagieren. Ich nenne es immer die Suche nach dem Möglichen.

Ich habe letztens in Leverkusen einen Vortrag vor einem bewusst kleinen Kreis gehalten, wo ich von vorneherein die Trainer ins Gespräch geholt habe. Gehen Sie zu "normalen" Fortbildungen, dann dürfen Sie zwischendurch möglichst keine Fragen stellen, weil es den Referenten ablenken könnte. Es fehlt oft einfach auch die Souveränität, auf plötzliche Fragen zu antworten. Ich sehe solche Fragen immer auch als Fortschritt für mich an. Ich habe großen Wert darauf gelegt, die Trainer an meinem Fortschritt unmittelbar zu beteiligen und in der Praxis meine Thesen zu untermauern. Ich bin und war immer bereit, auf andere Vorschläge einzugehen.

Ich wurde dann von einem ehemaligen Athleten aus unserer Zeit gefragt, woher ich die Kontrollgeräte habe. Ich habe mir abseits meine Welt aufgebaut und die Athletinnen objektiv kontrolliert. Ich bin oft bass erstaunt, wie wenig die Topleute wirklich anhand von Fakten überprüft werden. Stattdessen befasst man sich immer wieder mit "Teambildung" aus meiner Sicht vielfach ohne Inhalte.  Thumb_down ‌Warum werden z.B. flächendeckend durch den DLV nicht die Achillessehnen unserer Protagonistinnen ständig anhand bestimmter Parameter apparativ kontrolliert? Würde ich eine Langstrecklerin trainieren, würde das zum Standard abseits vom Mainstream gehören. Mir würden Bindegewebsumwandlungen damit sofort auffallen und Gegenmaßnahmen eingeleitet.

Gertrud


RE: Viel mehr Individualismus zulassen - krebsan - 01.11.2018

(01.11.2018, 11:27)Gertrud schrieb:
(01.11.2018, 11:19)krebsan schrieb: 
Das Problem ist vermutlich, dass der "Geldgeber" aber der Meinung ist/war, dass es ohne Bankdrücken und Kniebeugen nicht geht (oder bestimmte Umfänge, Intensitäten, was auch immer). Das heisst, die Förderung müsste auf Vertrauen basieren (was entsprechend auch etwas willkürlich ist), oder erst quasi als Erfolgsprämie im Nachhinein kommen, wenn der Weg sich als erfolgreich erwiesen hat. Dieses System, erst zu unterstützen, wenn der Erfolg erst da ist, wird nach wie vor zu häufig praktiziert.

Das Zauberwort ist Antizipation, sozusagen ein Vorhersehen, was sein könnte, also agieren und nicht permanent reagieren. Ich nenne es immer die Suche nach dem Möglichen.

Ich habe letztens in Leverkusen einen Vortrag vor einem bewusst kleinen Kreis gehalten, wo ich von vorneherein die Trainer ins Gespräch geholt habe. Gehen Sie zu "normalen" Fortbildungen, dann dürfen Sie zwischendurch möglichst keine Fragen stellen, weil es den Referenten ablenken könnte. Es fehlt oft einfach auch die Souveränität, auf plötzliche Fragen zu antworten. Ich sehe solche Fragen immer auch als Fortschritt für mich an. Ich habe großen Wert darauf gelegt, die Trainer an meinem Fortschritt unmittelbar zu beteiligen und in der Praxis meine Thesen zu untermauern. Ich bin und war immer bereit, auf andere Vorschläge einzugehen.

Ich wurde dann von einem ehemaligen Athleten aus unserer Zeit gefragt, woher ich die Kontrollgeräte habe. Ich habe mir abseits meine Welt aufgebaut und die Athletinnen objektiv kontrolliert. Ich bin oft bass erstaunt, wie wenig die Topleute wirklich anhand von Fakten überprüft werden. Stattdessen befasst man sich immer wieder mit "Teambildung" aus meiner Sicht vielfach ohne Inhalte.  Thumb_down ‌Warum werden z.B. flächendeckend durch den DLV nicht die Achillessehnen unserer Protagonistinnen ständig anhand bestimmter Parameter apparativ kontrolliert? Würde ich eine Langstrecklerin trainieren, würde das zum Standard abseits vom Mainstream gehören. Mir würden Bindegewebsumwandlungen damit sofort auffallen und Gegenmaßnahmen eingeleitet.

Gertrud

Obwohl ich keineswegs auf diesem Niveau tätig bin und deshalb nicht Einblick habe, wie es in den nationalen Kadern läuft, zumal in Deutschland, so habe ich doch auch hier wieder den Eindruck von Widersprüchlichkeiten.
Ich bin auch sehr dafür, dass der Verband objektiv kontrolliert und eine umfassende Leistungsdiagnostik anbietet oder gar einfordert. Die Frage ist aber, ob alle mit den Faktoren einverstanden wären, die überprüft werden, oder ob nicht dies bei autonomen, unabhängigen Trainern die nächste Diskussion auslöst.
Wenn sich der Verband auf Teambildung konzentriert, heisst das doch auch, dass er nicht zu sehr in die Trainingsprogramme der einzelnen Gruppen eingreifen möchte.
Die Fortbildungen erlebe ich übrigens ganz anders. Mal als teilhaben lassen an Erfahrungen und Erkenntnissen, mal als Vermittlung von Ideen, aber immer auf Austausch ausgerichtet. Aber natürlich liessen sich nicht alle Referenten jeweils von kritischen Teilnehmern umstimmen... Wäre bei dir ja auch nicht anders.
Letzlich entsteht die Glaubwürdigkeit von Trainern und Kursleitern doch auch aus dem erworbenen Leistungsausweis.