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Harald Lesch über unser Bildungssystem - Druckversion

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+--- Thema: Harald Lesch über unser Bildungssystem (/showthread.php?tid=1933)

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RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - icheinfachma - 04.07.2016

Wahre Worte... Das Abitur inflatiert. Im Lehramt gibt es Studenten, die nicht einmal die Rechtschreibung beherrschen oder als angehende Biologielehrer weder Fichte und Kiefer noch Blaumeise und Rotkehlchen unterscheiden können und fest davon überzeugt sind, dass sie solches Wissen auch nicht brauchen. Das ist keine Übertreibung, sondern aus meinem Unialltag gegriffen und auch kein Einzelfall, sondern mir fallen spontan mindestens 5 Studenten ein, auf die das zutrifft. Da wird einem angst und bange, dass solche Leute mal unseren Nachwuchs unterrichten werden... Aktuell gibt es solche Lehrer noch nicht bzw. kaum, weil früher das Abitur und das Studium viel schwerer waren und nur von ganz wenigen zu schaffen war.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - Gertrud - 05.07.2016

Es ist alles eine Frage der Gewichtung und der Konzentration auf unterschiedliche Inhalte. Das beginnt mit ganz kleinen Sachen. Welche/r Schüler/in hat heutzutage noch eine sehr gute Schrift? Kaum ein/r, weil einfach kein Wert mehr darauf gelegt wird. Mein Bruder und meine Mutter hatten eine gestochen scharfe und sehr schöne Schrift. Auch ich musste die Tafel zigmal auswischen. - Die Kommunikation steht nicht mehr im Vordergrund. Heute veranstaltet man deshalb sogar überregionale Diskussionrunden in den Schulen. -  Mir ist eine Begebenheit noch in bester Erinnerung: Basketbalspiel Deutschland Frankreich mit Dirk Nowitzki, zu dem ein Sportlehrer Schüler und mich eingeladen hatte. Ungelogen - auf der Zugfahrt haben die Schüler wirklich die gesamte Zeit auf ihrem Smartphone "herumgedaddelt". Ein derartiges Ausmaß war mir bisher unbekannt. Da kommen nur noch bruchstückhafte "Unterhaltungen" auf, zudem HWS in Dauerflexion und "Mausdaumen"!!!  Wink

Unsere Eltern hatten einfach auch Zeit für uns oder haben sie sich genommen. Da wurden Meisen, Rotkehlchen, Linde und Kiefer erklärt. Heute gibt´s Kindergeburtstage mit zig Kindern, die bespaßt werden. Es ist eine ganz andere Welt. Wenn man Eltern mti Kindern besucht, läuft gewöhnlich der Fernseher nebenher. Ich sehe die eigentliche Bildung mit vielen schönen Dingen aus Musik, Kunst und Sport vernachlässigt. Die Ausrichtung ist eine globale, teilweise entwurzelte und sehr stark hierarchisch finanzielle. Ich wünsche mir eine Schule und Universität, wo es im Endeffekt nicht nur auf selbstfahrende Autos ankommt, sondern wo auch die schönen Dinge dieser Welt wieder "eingefangen" werden. Ist nicht unser Inhalt Sport im Endeffekt auch eine Faszination schöner Bewegungungsabläufe und wie wir sie ansteuern und erreichen können? Ich wünsche mir wieder eine Schule und Universität mit Entschleunigung und Beschleunigung an den richtigen Stellen.

Gertrud


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - MZPTLK - 05.07.2016

(04.07.2016, 23:24)icheinfachma schrieb: ...weil früher das Abitur und das Studium viel schwerer waren und nur von ganz wenigen zu schaffen war.


Jein.
In den 50er, 60er Jahren machten 4-5 % der Jahrgänge Abitur, wobei Frauen unterrepräsentiert waren.
Daraus darf man nicht schliessen, dass viele Andere nicht in der Lage gewesen wären,
sie hatten oft nicht die 'richtigen' Eltern, es war wegen Vollbeschäftigung keine Notwendigkeit, usw.

Andererseits gab es durchaus mehr Klippen: von den Kriegs- und Krisenzeiten traumatisierte, neurotische Lehrer,
oft mit wenig pädagogischer Begabung.
Und vor allem konsequente, teilweise willkürliche Benotung(schwere Diktate, wo nur wenige Fehler toleriert wurden, Zensurenvergabe nach 'Wohlverhalten', usw.)

In den 70ern hatte man - nicht nur wegen der Proteste -
sondern auch wegen der Erkenntnis, dass die Gesellschaft viel mehr Potential entwickeln und nutzen könnte,
mit Gesamtschulen, Kurssystem, mit Diversifikation und Öffnung durch zweite und dritte Bildungswege, usw.
wesentlich mehr Bildungschancen und Gerechtigkeit ermöglicht.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - icheinfachma - 05.07.2016

Auch das mit den Smartphones kann ich bestätigen, das ist flächendeckend der Fall. Es wurden übrigens Halswirbelsäulenarthrosen bereits bei älteren Jugendlichen festgestellt, die von der dauerhaft gebeugten HWS kommen. Ich sehe diese Körperhaltung auch morgens in der Straßenbahn sehr häufig bei Schülern, wenn ich zur Uni fahre.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - icheinfachma - 05.07.2016

(05.07.2016, 09:06)MZPTLK schrieb:
(04.07.2016, 23:24)icheinfachma schrieb: ...weil früher das Abitur und das Studium viel schwerer waren und nur von ganz wenigen zu schaffen war.


Jein.
In den 50er, 60er Jahren machten 4-5 % der Jahrgänge Abitur, wobei Frauen unterrepräsentiert waren.
Daraus darf man nicht schliessen, dass viele Andere nicht in der Lage gewesen wären,
sie hatten oft nicht die 'richtigen' Eltern, es war keine Notwendigkeit, weil Vollbeschäftigung war, usw.

Andererseits gab es durchaus mehr Klippen: von den Kriegs- und Krisenzeiten traumatisierte, neurotische Lehrer,
oft mit wenig pädagogischer Begabung.
Und vor allem konsequente, teilweise willkürliche Benotung(schwere Diktate, wo nur wenige Fehler toleriert wurden, Zensurenvergabe nach 'Wohlverhalten', usw.)

In den 70ern hatte man - nicht nur wegen der Proteste -
sondern auch wegen der Erkenntnis, dass die Gesellschaft viel mehr Potential entwickeln und nutzen könnte,
mit Gesamtschulen, Kurssystem, mit Diversifikation und Öffnung durch zweite und dritte Bildungswege, usw.
wesentlich mehr Bildungschancen und Gerechtigkeit ermöglicht.

Gut, ich beziehe mich da mehr auf die DDR, dort konnten alle Schichten Abitur machen. Natürlich gab es auch ideologische Barrieren, aber es war auf jeden Fall nicht möglich, mit so schlechten intellektuellen Voraussetzungen Abitur zu machen und ein Lehramtsstudium abzuschließen, wie es heute der Fall ist.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - Gertrud - 05.07.2016

(01.07.2016, 10:14)dominikk85 schrieb: Die einen beklagen sich, dass ein Studierter wie ich nichtmal mehr die deutsche Rechtschreibung beherrscht. Diese Leute fordern mehr "Drill" in den Kernfächern (Mathe, Deutsch, Englisch), was im Prinzip dem Asiatischen Modell entspricht.

Die anderen wie Lesch fordern weniger Drill und mehr Kreativität.

Man kann auch einen Mittelweg finden, in welchem die Drill- und Kreativfächer eingebunden und gleichgewichtig beachtet werden. Sicherlich ist es auch sehr wichtig, dass "Inselbegabungen" gefördert werden und zum Zuge kommen. Was bringt im Endeffekt der theoretisch gebildete Architekt, der die Praxis wenig kennt? Entscheidend ist für mich im Bildungssystem immer die Förderung einer offenen Art, sich mit vielen Materien und Menschen auseinanderzusetzen. 

Nehmt doch unser Trainersystem! Ich halte es für enorm wichtig, dass Kreativität bei zukünftigen Trainern gefördert wird. Man sollte im Leben nie "beweglich wie eine Eisenbahnschiene" sein und einfach Spaß am Lernen haben und das auch mit 80 Jahren!!! Die Langlebigen machen es vor, dass Interesse am Leben ein Faktor ist, der uns lange überleben lässt. Das ist ein Element, das jung und alt verbindet. Daher ist es auch möglich, dass eine 80jährige Person noch akzeptiert und gehört wird. Es ist Aufgabe der Schulen und Universitäten, dieses lebenslange Lernen zu säen.

Was ich auch noch für sehr wichtig halte, ist die Tatsache, dass es immer wieder Menschen geben wird, die aus der Masse herausragen. Man sollte nicht, wie es heute immer wieder praktiziert wird, diese "Übermenschen" nivellieren. Das Mittelmaß ist heutzutage vielfach in. Masse ist ein Faktor, der diese Menschen sehr schnell zu Außenseitern macht, statt ihnen einen gebührenden Platz einzuräumen und zu fördern. Ich finde z. B. einen einfachichma mit seiner "Inselbegabung Erforschung von Sprintinhalten" faszinierend, dass sich ein junger Mensch total mit diesen Sachverhalten mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen eines Sportkonglomerats auseinandersetzt. Davon müssten wir viel mehr haben. 

Nehmt mal unsere Sport-Lehrpläne! Turnusmäßig finden Reformen statt, wo sich neue Leute eine Stufe höher katapultieren; nur verändert sich bei näherem Hinsehen absolut nichts. Im Gegenteil: Die Sportstundenanzahl nimmt meistens trotzdem ab. Die Haltungschäden nehmen zu.  Wink Diejenigen, die die Fehler an der Wurzel benennen, schießen sich gesellschaftlich meistens ins Abseits. Teams - oft Hülsen - sind in!!!  Cool

Ich gehe mal ins sportliche Detail. Warum steht ein Ashton Eaton an der Spitze der Zehnkämpfer? Er versinnbildlicht aus meiner Sicht eine unglaubliche Verkommnung an Bewegungsfülle und Automatismen, die sicherlich in jungen Jahren ausgeprägt und später weiterhin verfolgt worden ist. Diese Vollkommenheit hat ihn bisher auch wohl vor großen Operationen geschützt. Er hat sozusagen eine sehr ausgeprägte Sportbildung durchlaufen. Diese katzenhafte Geschmeidigkeit ist ein sehr lang angelegter Prozess und nicht das Prinzip des Programme-Schruppens und Draufhauens. Dahin sollten wir breitflächig kommen und nicht, ob einer 160kg aus der Bank drückt!!!  Wink Thumb_up

Gertrud


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - DerC - 08.07.2016

(04.07.2016, 23:24)icheinfachma schrieb: Wahre Worte... Das Abitur inflatiert.

Bildungsexpansion führt nahezu zwangsläufig zur Bildungsinflation. Und in dem Maße, wie die Bildungsexpansion in D. vorangetrieben wurde, war die Inflation der Bildungstitel unvermeidlich, weil die Nachfrage der Wirtschaft nach höher qualifizierten nicht so schnell steigen konnte.

Und die Bildungsexpansion zu betreiben war natürlich in einem gewissen Maß absolut notwendig, da war der Warnruf von Georg Picht 1964 durchaus berechtigt.

Das man heute bei der Akademisierung unser Gesellschaft in vielen Bereichen über das Ziel hinausschießt, ist relativ offensichtlich. Aber die selbstzerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus sind eben schwer aufzuhalten ...
(04.07.2016, 23:24)icheinfachma schrieb: Aktuell gibt es solche Lehrer noch nicht bzw. kaum, weil früher das Abitur und das Studium viel schwerer waren und nur von ganz wenigen zu schaffen war.

Wann ist „früher?“ Das Abitur war mal schwerer als man philosophische Texte auf Latein und altgriechisch lesen (nicht bloß mühevoll übersetzen) können musste. Das ist lange her und das braucht man wohl seit über 50 Jahren nicht mehr. altgriechisch wird kaum noch unterrichtet und schon vor 25 Jahren haben Menschen das Latinum bekommen, die gerade so „De bello gallico“ entziffern konnten.

1972 wurden in der BRD die gymnasiale Oberstufe reformiert und die Möglichkeit geschaffen, Schwerpunkte durch Leistungskurse zu setzten, es gab insgesamt mehr (Ab-)wahlmöglichkeiten.

Es gab dann durch diese Reform die Möglichkeit, ein richtig dünnes Brett zu bohren …. gerade auch für gute Sportler*innen durch einen dreifach bewerteten Sportleistungskurs.
Nach und nach hat man wieder mehr Verpflichtungen eingeführt und Wahlmöglichkeiten abgeschafft. Leistungskurse nur noch zweifach bewertet etc.

Heute haben wir nationale Bildungsstandards in den meisten Fächern und in allen Bundesländern außer Rheinland-Pfalz Zentralabitur. Schüler*innen müssen sich bis zum bitteren Ende durch Analysis, Matrizenrechnung und Stochastik quälen, obwohl sie Hebamme, Krankenpfleger oder Deutschlehrer*innen werden wollen.

Also das Abitur ist in den letzten 20 Jahren nicht signifikant leichter geworden. Es ist etwas berechenbarer geworden durch das Zentralabitur → die Aufgabentypen ähneln denen der vorigen Jahre sehr. Dadurch kann man mit „teaching to the test“ relativ erfolgreich sein – mit nachhaltigen Bildungsprozessen hat das u. U. aber recht wenig zu tun.

Dass heute mehr Menschen Abitur machen, liegt also wirklich zu einem nicht geringen Teil an Fortschritten bei der Mobilisierung von Schüler*innen aus Schichten, in denen früher ein sehr viel geringere Teil Abitur machen konnte, da hat MZPTLK recht.

Allerdings stagniert der Abbau der Bildungsungleichheit im wesentlichen seit Jahren, und die Bolognareform hat das auch nicht wesentlich verbessert, sondern vieles verschlechtert.

Sowohl die Standardisierung im Schulbereich als auch die Bologna-Reform sind der Versuch, das Bildungssystem nach technokratischen und ökonomistischen Prinzipien umzubauen: Ziel ist, in möglichst kurzer Zeit gut verwertbare (und möglichst unkritische) Fachmenschen zu schaffen und nebenbei die weitere Reproduktion und Distinktion der Eliten und deren Legitimation durch das Bildungssystem zu sichern.

Gruß

C


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - icheinfachma - 08.07.2016

Ja, wie schon erwähnt - ich gehe da von den neuen Bundesländern aus. Dort gab es zu DDR-Zeiten keine abwählbaren Kurse, um die Gesamtnote zu schönen, wie es heute der Fall ist. Und allein die Tatsache, dass in der DDR ein viel geringerer Prozentsatz zum Abi kam als die heutigen weit über 40%, obwohl die soziale Herkunft keine Rolle gespielt hat, spricht auch für sich. Den Anforderungsgrad des Abitur daran zu messen, ob man Altgriechisch oder Latein lernen musste, ist auch nicht ganz nachvollziehbar...

Und was die "nationalen Bildungsstandards" angeht: Bildung ist immernoch Ländersache. Außerdem wird ein Abitur nicht automatisch besser, wenn man es gleich macht. Vielleicht ist es dann nur überall gleich schlecht.

Es bleibt dabei - Solche Leute, wie ich unter meinen Lehramtskommilitonen habe, gab es in meiner Schulzeit unter den Lehrern nicht: Rechtschreibmängel, deutliche Wissenslücken im Fach, das Semester über nichts machen und kurz vor den Prüfungen lernen, sodass man sich langfristig nichts merkt oder auch einfach nur beim Lösen beliebiger Aufgaben oder Zwischenfragen in der Vorlesung zur Schau gestellten Dämlichkeit.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - DerC - 08.07.2016

(03.07.2016, 14:19)MZPTLK schrieb:
(03.07.2016, 13:53)Pollux schrieb: Es ist schlichtweg nicht erlaubt, den Bildungsbegriff auf die Erfordernisse der Arbeitswelt zu beschränken.

Natürlich nicht, das wäre eine Katastrophe.
Ebenso ist es nicht erlaubt, den Bildungsbegriff auf Schule und Uni zu beschränken.

Ja. Das ist sehr wichtig. Ein oder sogar der entscheidender Anteil von Bildung findet außerhalb von Schule und Universität statt. Leider wird das vielfach immer noch zu wenig betrachtet, obwohl die entsprechenden Erkenntnisse schon lange da sind.
(03.07.2016, 14:19)MZPTLK schrieb: Es geht um die Bildung der Gesamt-Persönlichkeit.
Und darum kann es keinen allgemeinen, allgemein-verbindlichen Bildungsbegriff geben.

Das spricht dann für mehr Wahlmöglichkeiten in der Schule, oder?

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, worauf der aktuelle Fächerkanon und die Unterrichtsinhalte und -methoden in unseren Schulen beruhen. Das ist historisch durch viele Kämpfe um die Deutungshoheit über die legitime Kultur geprägt worden, in höchstem Maße kontingent und stark durch die Bildungsvorstellungen der Herrschenden bestimmt.
(03.07.2016, 14:19)MZPTLK schrieb: und nach einiger Zeit kommen sie mit einem veritablen, zukunftsfähigen Bildungskonzept wieder heraus..

Die Möglichkeit, das einige hier sich zusammensetzen und das besser könnten als viele Bildungspolitiker sollte mensch nicht ausschließen – nur wäre ein wirklich zukunftsfähiges und im Vergleich zum aktuellen System gerechteres Bildungskonzept aktuell in D. nicht mehrheitsfähig.

Was niemand daran hindern muss, ein zur Zeit nicht durchsetzbares Konzept zu entwerfen und dann in kleinen Schritten darauf hinzuarbeiten … es gibt kleine Schritte, die Mehrheiten finden könnten.

Gruß

C


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - DerC - 08.07.2016

(08.07.2016, 09:50)icheinfachma schrieb: Ja, wie schon erwähnt - ich gehe da von den neuen Bundesländern aus. Dort gab es zu DDR-Zeiten keine abwählbaren Kurse, um die Gesamtnote zu schönen, wie es heute der Fall ist. Und allein die Tatsache, dass in der DDR ein viel geringerer Prozentsatz zum Abi kam als die heutigen weit über 40%, obwohl die soziale Herkunft keine Rolle gespielt hat, spricht auch für sich. Den Anforderungsgrad des Abitur daran zu messen, ob man Altgriechisch oder Latein lernen musste, ist auch nicht ganz nachvollziehbar...

Du hast mich nicht richtig verstanden. Macht nichts, das Missverständnis ist der Normalfall. Nein, der Prozentsatz spricht eben nicht für sich. Eine monokausale Erklärung, wie: „Es machen genau deshalb mehr Menschen Abitur, weil es leichter geworden ist.“ ist viel zu simpel und spricht nicht dafür, dass du eine Berechtigung hast, hier über den Bildungsstand deiner Kommiliton*innen herzuziehen. Wenn du dich mit auch nur annähernd ähnlichem Eifer mit unserem Bildungssystem und seinen gesellschaftlichen Bedingungen befasst hättest wie mit der Sportwissenschaft, würdest du womöglich nicht auf solche Kurzschlüsse kommen. Aber vielleicht lässt in deinem Studiengang auch die Lehre in diesem Bereich zu wünschen übrig, dann kannst du diesen Vorwurf direkt an deine Dozenten weiterreichen. Vielleicht machst du auch kein Lehramt und hast nur Kurse zusammen mit den Lehrämtlern, dann hast du in diesem Bereich vermutlich keine Pflichtkruse. Dennoch sollte, wer mitreden will, auch bereit sein sich ernsthaft nachzudenken und sich zu informieren - kann dir gerne Literaturtipps geben.

Die meisten Gymnasien in D waren humanistisch geprägt und das hieß: Latein und altgriechisch für alle. Bedeutet, dass man nach Volks- oder Mittelschule kaum einsteigen konnte, weil dort kein Latein unterrichtet wurde. Das hat viele ausgeschlossen. Und dann ist das auf einem hohen Niveau einfach deutlich schwerer als z. B. Englisch, die Grammatik ist komplexer, die typischen Inhalte der Texte auch.

Aber das ist natürlich nicht der einzige Grund, warum mittlerweile mehr Menschen Abitur machen. Es machen auch mehr Menschen Abitur, weil es mehr Menschen für ihre geplanten weiteren Bildungsweg brauchen bzw. meinen, dass sie es benötigten. Es gibt immer mehr Ausbildungsberufe, die eine Hochschulreife voraussetzen. Banklehre war lange mit Realschulabschluss kein Problem, da wird mensch heute in den meisten Fällen nicht mehr ohne Hochschulreife genommen. Nur ein Beispiel von vielen. 

Abwählbare Kurse haben per se erst einmal nichts mit „Schönung der Note“ zu tun. Es wird nur leichter, wenn die Leistungsanforderungen in den Fächern stark differieren, und man leichtere Fächer wählt. Und da gibt es eben leider eine alte Tradition, dass die vor allem in zwischen Neben- und Hauptfächern stark abweichen und es auch in den Fächergruppen eine Hierarchie gibt. Allerdings gibt es natürlich auch eine Menge Klischees und zumindest vor dem Zentralabitur gab es eine größeren Einfluss der Lehrer*innen auf die nötigen Leistungen. 

Und muss man heute noch erwähnen, dass der mögliche Bildungsweg in der damaligen DDR auch von der politischen Linientreue abhängen konnte? Dazu war es in einem autoritären System natürlich grundsätzlich leichter, die Quoten für bestimmte Bildungsgänge durchzusetzen.
(08.07.2016, 09:50)icheinfachma schrieb: Und was die "nationalen Bildungsstandards" angeht: Bildung ist immernoch Ländersache. Außerdem wird ein Abitur nicht automatisch besser, wenn man es gleich macht. Vielleicht ist es dann nur überall gleich schlecht.


Wo habe ich behauptet, dass das Abitur besser geworden wäre? Ich habe nur behauptet, dass es in den letzten 20 Jahren nicht erheblich leichter geworden ist.

Und komm mir bitte nicht mit solchen trivialen Argumenten „Ländersache“, sondern beschäftige dich mit der realen Geschichte unseres Bildungssystem und den politischen Beschlüssen. Es gibt Beschlüsse der Kultusministerkonferenz zu nationalen Bildungsstandards, und wenn Bundesländer verpflichten sich diese zu übernehmen, dann kommt es auch zu einer nationalen Durchsetzung. Natürlich gibt es noch große Unterschiede zwischen den Bundelsländern, aber das föderale System verhindert nicht grundsätzlich die Durchsetzung und Akzeptanz nationaler Bildungsstandards. Es verhindert nur, dass eine Bundesregierung solche Standards beschließen und durchsetzen kann.
(08.07.2016, 09:50)icheinfachma schrieb: Es bleibt dabei - Solche Leute, wie ich unter meinen Lehramtskommilitonen habe, gab es in meiner Schulzeit unter den Lehrern nicht: Rechtschreibmängel, deutliche Wissenslücken im Fach, das Semester über nichts machen und kurz vor den Prüfungen lernen, sodass man sich langfristig nichts merkt oder auch einfach nur beim Lösen beliebiger Aufgaben oder Zwischenfragen in der Vorlesung zur Schau gestellten Dämlichkeit.


Es gab sie in deiner Schulzeit unter deinen Lehrern womöglich nicht. Von dieser geringen Stichprobe auf pauschale Aussagen kommen zu wollen, verbreitet auch nicht gerade akademischen Glanz. Möglicherweise glänzen einige bei dir im Studium noch weniger, deswegen muss der Einäugige nicht auf die Blinden herabsehen.
Und möglicherweise fördert der von mir kritisierte letzte Umbau unseres Hochschulsystems gerade das von dir beschriebene „Bulimie-Lernen“ und deine Kommiliton*innen folgen der Eigenlogik des Systems und ihrem Habitus, der weit mehr von ihrer sozialen Herkunft als durch ihre institutionell bescheinigte Hochschulreife bestimmt wird.

Gruß

C