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Harald Lesch über unser Bildungssystem - Druckversion

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RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - MZPTLK - 03.07.2016

Lebensfern ist es, wenn
- Azubis Schwierigkeiten mit Grundrechenarten haben,  unterirdische Lese- und Schreibkompetenz zeigen und nachgeschult werden müss(t)en.
- Unis bei 1/3 der Erstsemester keine oder mangelnde Studierfähigkeiten feststellen müssen
- das Sozialverhalten allzuvieler Jungspunde stark ausbaufähig ist
- die physischen Eigenschaften befürchten lassen, dass Viele ohne Rolltreppe, Fahrstuhl oder Taxi nur sehr beschwerlich von A nach B kommen

@ icheinfachma: ich gebe Dir im Grossen und Ganzen recht.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - Pollux - 03.07.2016

@icheinfach..
Es ist schlichtweg nicht erlaubt, den Bildungsbegriff auf die Erfordernisse der Arbeitswelt zu beschränken. Punkt!

Eine gute Schulbildung kann helfen, dass der Mensch sein Leben zu führen vermag. Das macht ihren Sinn aus. Dass man den Menschen dabei in die Lage versetzt, sich danach für einen Beruf zu qualifizieren, gehört notwendigerweise dazu. (Im Übrigen gibt es in Deutschland Unternehmer, obwohl „Wirtschaft“ kein Schulfach ist) Niemals aber ist Bildung dafür da, dass der Mensch bloß gesellschaftlichen Erfordernissen genügt.

Besonnene Länder sind klug genug, sich auf den Kanon elementarer Fächer und zugleich auf die Vielfalt des Bildungsbegriffs zu konzentrieren – bezogen auf den Menschen, der durch das definiert ist, was er aus sich machen kann. Dieses Spektrum sollte nicht von irgendwelchen Lobbyisten, Hysterikern, oder Ideologen besetzt werden.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - lor-olli - 03.07.2016

Bin ich der Einzige, der Lesch anders versteht?
Er prangert weniger die Inhalte, als die ART DER VERMITTLUNG an. Beispiel: Als Physiker will er natürlich keinen Physikunterricht streichen, allein ihm (und auch mir) fehlt häufig im Unterrricht der Praxisbezug. Sein Beipiel einer in der Praxis nach schräg oben gespritzten Wassersäule die zur Parabel wird sollte dazu ermuntern zu fragen "Warum ist das so?" solche Beispiele wirken nachhaltig. Musik kann ich mit endloser Notenfolge an der Tafel unterichten, oder ich drücke dem Nachwuchs eine Gitarre, ein Keyboard oder Schlagzeug in die Hände und lasse sie machen.

Es gibt mittlerweile eine Reihe Untersuchungen die feststellen, dass der Lernerfolg durch körperliche Bewegung gesteigert wird, insbesondere bei durchschnittlich bis unterduchschnittlich begabten Kindern! In Leistungstests liegt bei diesen der IQ durchschnittlich um fast 5 Punkte höher - in verschiedenen Messungen und Untersuchungen bestätigt. (Eine davon hat mein Bruder mit Schülern unterschiedlichstem IQ vorgenommen, Ergebnis ließ sich bestätigen - seit dem wird VOR dem Unterricht in der ersten Stunde, geturnt, gespielt, gelaufen. Auch Parcourt (entschärft…) wurde auf Wunsch der Schüler versucht - DAS ist dann die Herausforderung für Lehrkräfte, bei einer Kollegin bleibt es mit ca. 140 kg Lebendgewicht natürlich bei der Theorie… Wink)

Lernen sollte auf Neugier beruhen, der Grundtendenz des “inneren Antriebs". Wieso können so viele Schüler kaum vernünftig Englisch sprechen, nach 10 Schuljahren ? “Stopft" so ein Kind mal für 12 Monate in eine rein englischsprachige Umgebung und schaut dann mal. (Ich habe da jemanden, der auf diese Weise Deutsch lernte). Kinder haben kein Problem die Technik eines neuen Mobiltelefones oder Computers in kürzester Zeit zu erlernen und zu nutzen (durch ausprobieren und mit englischsprachiger Anleitung), wie sieht es da bei vielen Erwachsenen aus?

Was Lesch fordert, ist die Motivationsfrage als die zentrale Frage zu stellen, Bewegung z.B. ist prinzipiell ein kindliches Bedürfnis, spielerisches Ausprobieren ohne gleich eine Bewertung zu fordern ist motivierend, Anreize zum Selber-Entdecken machen lange Erklärungen oft überflüssig. Diese "nicht gemessene Zeit" wird oft als vertane Zeit abgetan, aber sie prägt die Grundhaltung zum Lernen. Viel experimentell-pädagogische Konzepte gehen deswegen auf, weil sie genau hier ansetzen, nicht unbedingt weil sie die Pädagogik neu erfinden.

Generell ist aber auch eine starke gesellschaftliche Veränderung festzustellen, für viele Kinder ist das konsumieren und rezipieren "ohne Verarbeitung" bereits seit dem Kindergartenalter in Fleisch und Blut über gegangen. Da sind auch die Eltern gefordert, viele hängen aber selbst den ganzen Tag / die ganze Freizeit am Smartphone oder Computer…

edit: Pollux hat schon schneller zugeschlagen …


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - MZPTLK - 03.07.2016

(03.07.2016, 13:53)Pollux schrieb: Es ist schlichtweg nicht erlaubt, den Bildungsbegriff auf die Erfordernisse der Arbeitswelt zu beschränken.

Natürlich nicht, das wäre eine Katastrophe.
Ebenso ist es nicht erlaubt, den Bildungsbegriff auf Schule und Uni zu beschränken.

Es geht um die Bildung der Gesamt-Persönlichkeit.
Und darum kann es keinen allgemeinen, allgemein-verbindlichen Bildungsbegriff geben.

Ich merke schon: wir haben hier ein halbes Dutzend Bildungspolitiker beisammen,
die sperren wir für eine Weile bei Wasser und Brot zusammen,
und nach einiger Zeit kommen sie mit einem veritablen, zukunftsfähigen Bildungskonzept wieder heraus..
Fahne


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - nico - 03.07.2016

Wer soll das denn ändern? Unsere Politiker? Deren Lebensweg besteht doch meistens auch aus Schule - Studium - Abgeordneter -
Pensionär? Rolleyes Huh
hn


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - MZPTLK - 04.07.2016

(03.07.2016, 23:39)nico schrieb: Wer soll das denn ändern? Unsere Politiker? Deren Lebensweg besteht doch meistens auch aus Schule - Studium - Abgeordneter - Pensionär...

Seit Jahrtzehnten. Aktuelle Daten habe ich nicht parat, aber es waren immer so um die 65 % Angehörige des öffentlichen Dienstes in den Parlamenten.
Die Gründe sind bekannt und könnten somit geändert werden
3 mal darf man raten, warum das nicht passiert.

Aber wie gesagt, das hat auch Vorteile, z. B Kontinuität, Stabilität..


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - icheinfachma - 04.07.2016

(03.07.2016, 13:53)Pollux schrieb: @icheinfach..
Es ist schlichtweg nicht erlaubt, den Bildungsbegriff auf die Erfordernisse der Arbeitswelt zu beschränken. Punkt!

Habe ich auch nicht behauptet. Ich diesen Aspekt der Bildung nur weitgehend unerwähnt gelassen. Übrigens zeugt ein "Punkt!" nicht gerade davon, das Prinzip des Diskutierens verstanden zu haben.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - Pollux - 04.07.2016

Der Punkt sollte deutlich machen, dass ich auf etwas Selbstverständliches zurückgreife, das nicht zur Disposition gestellt werden darf. Aber du kannst ja - wie geschehen - den ‚Punkt’ dennoch zum Thema machen. Etwa, um deutlich zu machen, dass das vermeintlich Selbstverständliche im Licht von .... dennoch einer Rechtfertigung bedarf. 

Ist aber, so viel ich sehe, nicht geschehen. Also, nix für ungut!


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - icheinfachma - 04.07.2016

Die ganze Art, etwas als betont indiskutabel hinzustellen und keine Widersprüche zulassen zu wollen, stört mich einfach.


RE: Harald Lesch über unser Bildungssystem - RalfM - 04.07.2016

Natürlich präsentiert ein guter Lehrer seine Inhalte immer lebhaft, nachvollziehbar, und mit Überraschungseffekten. Das mache ich so und haben schon alle immer so getan, die ein Talent fürs Weitergeben von Verständnis haben. Das gibt der Lehrerin und dem Lehrer Freiräume, denn Autorität muss man sich dann nicht behaupten, sondern bekommt sie geschenkt. Das macht mit den Jungen immer viel Freude.

Ich bin nicht Schullehrer sondern Universitätslehrer und habe aus Engagement über mein Lehrdeputat heraus ein vierstelliges Überstundenkonto in Lehrveranstaltungen, die ich auch wirklich abgehalten habe (ist ja nicht immer so üblich), das natürlch nie eingelöst wird. Es wäre die Anzahlung zu einem Eigenheim.

Zu meiner Zeit ist Dank der sozialliberalen Koalition in der damaligen BRD und Dank Willy Brand die Universität für breite Schichten geöffnet worden. Ungefähr ein Viertel meines Gebutsjahrgangs erwarb die Hochschulreife. Inzwischen ist es mehr als die Hälfte eines Geburtsjahrgangs. In der knappen verbleibenden Hälfte ohne Abitur stecken sehr viele, die aus vielerlei Gründen (Migration; zu kreativ; falsche Familie) kein Abitur machen, obwohl sie die Fähigkeiten dafür durchaus hätten.

Unterm Strich bleibt für mich das Fazit: Heute kann man als Schüler aus dem oberen Ende des untersten Drittels der Begabungsverteilung den gleichen Abschluss (Abitur und Hochschulzugangsberechtigung) erreichen wie die Talentiertesten des Jahrgangs im 80-Millionen-Volk. Die Universitäten sind von Studierenden verstopft, die dort eigentlich nicht hingehören. Sie stehen allen Talentierten im Weg.

Die Hochschulverwaltungen agieren als reine Zählorganisationen. Wie viele müsst ihr übernehmen können? Wie viele fangen bei euch an? Wie vielen drückt ihr ein Zeugnis in die Hand? Wenn die Quote zu niedrig ist, kürzen wir euch die Mittel. Damit haben sich die Universitäten in Konkurrenz um Kopf- und Planzahlen in eine Abwärtsspirale begeben, die der einzigartigen Instanz der Universität - welche die Stärke Europas und seiner Derivate in der Welt (USA, Australien, ...) begründet hat, das Wasser abgräbt. Neoliberale Dummheit in purer Form, in geradezu kristalliner Gestalt.

Ich habe einen Studenten, der seit 20 Semestern da ist im Bachelorstudium, aber nie einen Uni-Abschluss erwerben kann. Wir begegnen uns mit Sympathie, aber ich kann aus diesem Menschen keinen Universitätsabsolvent machen, wenn er die Aufgabenstellung nicht versteht. Er wurde von einer Allianz von Schullehrern durchgewunken, weil er aus einer kinderreichen Familie stammt und eine seltene singuläre Begabung hat: er kann auf einer Trompete durch einmaliges Hören beliebige Melodien nachspielen. Aber sonst kann er nichts. Er hängt trotzdem seinem Traum an und verkauft nachts Zeitungen in den Restaurationen von Berlin-Mitte.

Das ist ein plakatives Extrembeispiel, aber ich erlebe ja ständig, dass große Teile der Erstsemester an der Universität völlig verloren sind. Sie sind für einen akademischen Weg einfach nicht geeignet (und Uni - Parlament - Pension) meine ich damit nicht. Warum sagt denen das niemand früh genug? Warum wird instututionell bestraft, wenn sich diejenigen, die an der Universität tatsächlich die Arbeit leisten, lieber um die Talentierten kümmern wollen als um die Fehlgeleiteteten?